Rennsteiglauf 2024
"hei, hei, hei, ho der Rennsteiglauf, hei hei hei ho..." Ich schau auf die Uhr und hab
grade 18 richtig schöne Kilometer hinter mir. Was ich zu diesem Zeitpunkt noch
nicht wissen konnte: der Ohrwurm wird mich mindestens noch weitere fünf
Kilometer begleiten. Die Kilometer purzeln hier wie nichts von den Beinen.
Diese Landschaft... Ich hab die Augen überall. Hin und wieder die Stimmung an
der Strecke... Musikanten und begeisterte Wanderer. Die Stille unter den Läufern...
jeder erlebt das hier scheinbar genauso wie ich. Das ist schon meine dritte
Anmeldung für den Rennsteiglauf. 2019 zum Halbmarathon war ich verhindert und
konnte nicht starten. 2022 kam ich zwei Wochen vor dem Marathon frisch aus einem
Infekt raus und wollte nichts riskieren. Aber dieses Mal werde ich im schönsten Ziel
der Welt einlaufen, da bin ich mir sicher. Vielleicht fange ich aber auch hier erstmal
vorne an. Der Rennsteiglauf sollte für mich nicht nur irgendein Lauf werden,
den ich abhaken wollte. Der Rennsteiglauf hat auch etwas persönliches für mich.
An einem Samstag im Februar 1988 wurde ich hier in Neuhaus geboren.
Meine Großeltern haben ihr Leben ganz nahe des Rennsteigs verbracht.
Mein Großvater schritt im Thüringer Wald oft durch Buchen, Fichten, Tannen in den Tag. Später kamen die Töchter und irgendwann dann die Enkel dazu. Mein Großonkel lief beinahe jedes Jahr den Supermarathon, schon zu DDR Zeiten. Der Rennsteig ist also ein fester Teil meiner Familie und damit auch ein irgendwo tief verwurzelter Teil von mir. Deswegen sollte das hier für mich kein Lauf werden wie jeder andere. Städtemarathons gibt es zuhauf. Berlin und Hamburg waren toll, keine Frage. Und dennoch reizen mich all die anderen städtischen Laufevents über die 42,2km einfach nicht. Die Natur und die Ruhe. Das ist das, was beim Laufen seinen Reiz auf seine eigene, ganz besondere Art ausmacht. Hier findet man zu sich selbst und kann jede Minute auskosten. Hier ist die Ruhe eine ganz andere, als an einem zuschauerfreien Abschnitt in der Stadt. Was wäre also ein schönerer Auftakt, um den Asphaltmarathons durch die Betonwüsten der deutschen Großstädte lebewohl zu sagen, als der Marathon am Rennsteig? Es ist Freitag und der Wetterbericht hat sich während der letzten Woche von Tag zu Tag von gemeldeten Gewittern auf bewölkt und etwa 13 Grad für Samstag gebessert. Perfekte Bedingungen sollen mich und die Tausenden anderen, die sich von Eisenach, Oberhof und Neuhaus auf den Weg zum gemeinsamen Ziel in Schmiedefeld am Rennsteig machen werden, erwarten. Ich fahre zu meiner Unterkunft in Reichmannsdorf und checke in der Pension zum Goldberg ein. Eine der letzten Pensionen in der Umgebung. Sehr schade, dass das Aussterben der Lokale, Pensionen und Cafés hier scheinbar unaufhaltsam fortschreitet. Könnte man hier doch so viel aufziehen, denn die Landschaft lädt zum bleiben ein. Die Unterkunft ist sehr sauber und mein Zimmer wirkt gemütlich. Auch das Bett sieht nach bester Regeneration aus, die Besitzer sind sehr freundlich. So darf es sein. Als ich mich auf den Weg nach Neuhaus mache um meine Startunterlagen zu holen fällt mir mein, dass ich seit heute Morgen nichts gegessen habe und ich freue mich daher umso mehr auf die Kloßparty in der GutsMuths Halle. Ich finde direkt einen Parkplatz vor der Halle und bin begeistert von der Größe des Events. Es steht alles voller Bierbänke, die in wenigen Stunden von feierlustigen Läufern, Läuferinnen und Besuchern besetzt werden. Die Startunterlagenausgabe ist direkt gegenüber und ich habe nur wenige Minuten später alles was ich brauche in der Hand. Das ging schnell. Zurück in der Halle suche ich mir einen Platz von dem aus ich das Geschehen beobachten kann. Das Tor zur Kloßausgabe öffnet sich und keine halbe Minute später steht die Schlange durch die gesamte Halle an. Man darf erstaunt sein, wie schnell auch das von der Rolle geht. Ich muss nicht lange auf mein Essen warten und setze mich auf eine der Bänke. Hier kommt man mit allen schnell ins Gespräch. Es geht ums Laufen, worum auch sonst. Ich lerne Teilnehmer kennen die seit zig Jahren dabei sind. Einer von ihnen seit 1979 jedes Jahr, bis auf vier oder fünf Ausnahmen. Auch einige der jüngeren Generation kommen jedes Jahr. Dem Rennsteig die Treue! Jeder schwärmt mir was vor. Hier und da auch ein paar Hinweise an welchen Ecken es etwas schwieriger werden könnte. Meine Vorfreude steigt. Die Band spielt das Rennsteiglied und die Leute stellen den Fuß aufs Gas. 5-Sterne Stimmung. So hab ich mir das vorgestellt. Nach einigen weiteren netten Gesprächen neigt sich mein Abend jedoch bald dem Ende. Ich will gut ausgeruht sein und beschließe, trotz der extrem positiven Energie hier, nicht viel länger zu bleiben. Zurück in der Pension packe ich meinen Starterbeutel und prüfe gefühlt fünf Mal ob ich auch wirklich alles zusammengesucht habe, was mit dem Transport nach Schmiedefeld muss. Sollte eigentlich alles dabei sein. Im Anschluss gehe ich noch eine kleine Runde spazieren und entdecke am Marktplatz den gut gefüllten Reichmannsdorfer Bücherschrank. Ich meine es war gleich das dritte oder vierte Buch, welches ich mir angesehen habe. Forrest Gump. Top! Den Film habe ich so oft gesehen, doch vom Buch wusste ich bisher nichts. Bin gespannt. Ich hol es raus und geh zurück auf mein Zimmer, auf dem ich heute nicht mehr alt werde. Am nächsten Morgen bin ich um 05:00 Uhr wach und fühle mich fit. Zu früh aufgewacht und zu wenig Schlaf befürchte ich dennoch. Aber ich komme spitze in den Tag. Ein gutes Frühstück mit ausreichend Flüssigkeits- und Elektrolytzufuhr später sitze ich im Auto auf dem Weg nach Neuhaus. Unweit vom Startpunkt entfernt, gibt es sogar ziemlich schnell einen passenden Parkplatz. Die Halle ist schon wieder (oder immernoch?) voller Menschen und vor dem Gymnasium steht alles voll. Ich gebe meinen Starterbeutel zum Transport ab und laufe noch ein bisschen rum. Das Wetter scheint zu halten und die Bedingungen könnten besser nicht sein. Die Musik vom Sportplatz schallt herauf. Beinahe hätte ich das Rennsteiglied verpasst, also auf zum Startbereich. Dort sind alle wieder verdammt gut drauf. Es wird mitgesungen, geklatscht und Stimmung gemacht. Punkt 09:00 Uhr fällt der Startschuss und wir machen uns auf den Weg nach Schmiedefeld. Die ersten paar Höhenmeter sind schnell gemacht und es geht für ein paar Kilometer auf der Straße durch Neuhaus und nach dem Ortsausgang etwas bergab. Von hier aus hat man oft schon einen tollen Blick auf die Landschaft.
Ehe man sich versieht sind die ersten 5-6km auf der Uhr und es geht an der ersten Verpflegungsstation vorbei. Ich hab mir vorgenommen mir Zeit zu lassen und an den VPs in Ruhe was zu trinken und zu essen. Es gibt Wasser, Tee, Cola, Bananen, Äpfel und an späteren Stationen sollte noch viel mehr dazukommen. Hier verhungert keiner. Nach der Verpflegung geht es endlich in den Wald. Zumindest dahin, wo früher mal richtiger Wald war. Es ist tatsächlich auch hier vieles von dem, was einst stand nicht mehr da. Die Gründe sind ja bekannt. Dafür hat man jetzt jedoch einen traumhaften Blick auf die Talsperre Scheibe-Alsbach und allgemein auf die hügelige Landschaft des Thüringer Waldes. So geht es jetzt erstmal schön zu und ich kann es gut und ruhig laufen lassen. Genauso mach ich das heute denke ich mir. So und nicht anders. Keinen Stress, keine Hektik. Nach acht Kilometern kommt mir jemand entgegen gelaufen und hebt seine Mütze auf die er verloren hat. Ich schau ihn mir an und denke, dass ich die Frisur und den Bart irgendwoher kenne. Auch die Mütze mit dem Shrimp erkenne ich. Gestern noch das Buch gefunden und heute laufe ich selbst neben einem als Forrest verkleideten Rennsteigmarathoni. Cooler Typ. Ich bleibe aus Spaß an der Freude ein, zwei Kilometer in seiner Nähe, ehe ich ihn irgendwann aus den Augen verliere. Bis sich das Feld richtig auseinanderzieht sollte es noch ein wenig dauern. Es geht bergauf
und ich lerne das Muster des Rennsteiglaufes kennen. Die Anstiege sind
oft nicht sehr steil oder giftig. Sie ziehen sich aber teils lange dahin.
Und nach jedem Anstieg verändert sich die Landschaft. Oben auf der
Höhe, etwa bei Kilometer zehn, geht es in ein nebliges Waldstück.
Das sieht schon richtig mystisch aus mit diesem Waldweg, den Bäumen
und dem Nebel der dazwischenhängt. Hier zeigt sich der Lauf in einer
seiner schönsten Facetten. Es geht weiter am Waldrand und ich kann
die Verpflegungsstation Friedrichshöhe hören. Hier probiere ich zum
ersten Mal den berüchtigten Haferschleim und komme bestens damit klar.
Die nächsten Kilometer rollen wieder ganz locker dahin. Ich genieße diese Ruhe unter uns allen und bald geht es hinauf zur Turmbaude Masserberg, dem höchsten Punkt auf der Strecke. Hier oben gibt es am VP wieder alles was das Herz begehrt und ich sorge dafür, dass meine Speicher nicht leer werden. Runter nach Masserberg läuft es easy. Danach folgt ein Anstieg, ehe es auf einen ziemlich technischen Singletrail erneut bergab geht. Hier wünsche ich mir mir meine Trailschuhe an die Füße. Allgemein gibt es auf der Strecke einige Abschnitte auf denen Trailschuhe sinnvoll wären, aber der Großteil der Route liegt auf gut zu laufenden Wegen, für die es kein sonderlich griffiges Profil braucht. Der Singletrail macht richtig Spaß. Überholen geht hier leider kaum, aber das Tempo welches gelaufen wird ist perfekt und ich komme bei Kilometer 22 unten an der nächsten Verpflegung an. Die dortige Band spielt, wie fast zu erwarten war, das Rennsteiglied und ich gönne mir Tee, Wasser, eine Banane und hole meine erste Salztablette raus. Der Zeitpunkt passt. Die zweite gibts dann irgendwo zwischen Kilometer 30 und 33. Denn auch wenn es heute nicht allzu warm ist, komme ich gut ins schwitzen und auch die Sonne haut ab und zu schonmal ganz ordentlich mit drauf. Es geht weiter und die Strecke teilt sich auf dem nächsten, etwa drei Kilometer langen Abschnitt in Asphalt und einen schmalen Wanderweg rechts daneben auf. Ich entscheide mich natürlich für den Wanderweg. Das Höhenprofil steht auf bergauf und so langsam scheinen die Höhenmeter mehr als bisher zu kommen. Immer wieder geht es jetzt hoch und runter, wobei die Tendenz klar auf hoch liegt und die Abwärtspassagen kürzer sind, als die Abschnitte mit Anstiegen. Die nächsten Kilometer werden nicht allzu einfach aber die kleine Ortschaft Kahlert begrüßt uns alle mit Applaus und verabschiedet uns mit einer Kapelle, die uns musikalisch wieder hinaus auf die weite Flur entlässt. Die Route führt wie so oft vorbei an einer sehr schönen Wiese. Kühe, Wildkräuter, ich komme mir immer wieder vor, wie an einer Bergwiese in den Alpen. So herrlich ist auch hier dieser Blick übers Land. Der nächste Ort ist Neustadt am Rennsteig und bis zum Ortseingang lasse ich es an meiner Alpenwiese entlang locker etwas bergab laufen. Im Ort sitzen die Anwohner auf den Bänken vor ihren Häusern, trinken gemütlich was und machen etwas Stimmung für uns. Oben im Ort angekommen feuern uns auch nochmal ein paar Kids an und ich kann die nächste Verpflegunsstation schon hören. Dort nehme ich auch zum ersten Mal so richtig die aufkommende Wärme wahr, und dass es allmählich anstrengender wird. Aber ich kann meinen Körper wieder bestens versorgen. Die VPs werden mit zunehmender Distanz immer besser. Mittlerweile gibt es auch geschmierte Brote, Gels und vieles mehr. Nach Neustadt sind die 30 Kilometer voll und ich bin mir sicher, obwohl sich die Beine langsam etwas melden, nach Schmiedefeld zu laufen. Eine tolle Sache ist nämlich, dass es die Möglichkeit gibt, am Dreiherrenstein bei Kilometer 33 mit Wertung auszusteigen, wenn man nicht mehr weiterkann, oder mag. Mich begeistert weiterhin jeder Kilometer hier. Die Ruhe unter uns allen, so scheint mir, ist jedoch schon seit einer Weile eine ganz andere als noch zu Beginn... Kurz vor Frauenwald kommt noch eine lang gezogene Rampe, die mich zum Ende hin nochmal einige Körner kostet. Nachdem auch diese Hürde hinter mir liegt, mache ich mich am nächsten Stimmungsnest vorbei auf den letzten Teil meines Abenteuers Rennsteig. Es läuft jetzt nochmal fast wie von selbst und ich reflektiere diesen Tag. Ich denke an meine Großeltern und dass ich diesen Lauf auch Ihnen widmen möchte. Und während ich darüber nachdenke, was ich heute alles sehen, und wieviel Herzlichkeit ich erfahren durfte, kann ich verstehen, dass sie aus diesem Teil der Welt einfach nicht weg wollten. Ich laufe auf Kilometer 40 zu und höre das Ziel. Da unten liegt Schmiedefeld. Ich schaue auf die Uhr und bin mir sicher alle Höhenmeter hinter mir zu haben. So genau habe ich das Höhenprofil nicht im Kopf, wüsste aber nicht was da jetzt noch kommen soll. Dennoch versuche ich dem Drang zu widerstehen, auch wenn es bergab geht, noch Energie liegen zu lassen. Ich laufe in den Ort hinab und höre den Sprecher und die Musik. Als ich unten angekommen die steile Linkskurve nehme und von der dortigen Stimmung fast um sie herum getragen werde muss ich feststellen, dass der Sportplatz von Schmiedfeld oben auf der Höhe liegt und ich trotzdem nochmal etwas zu mobilisieren habe. Aber das
schönste Ziel der Welt wäre nicht das schönste Ziel der Welt, wenn man hier allein
gelassen würde. Die Zuschauer machen nochmal richtig Lärm und die letzten paar
hundert Meter richtig Spaß. Schmiedefeld klatscht und ruft einen förmlich den Berg
hinauf und oben angekommen wird man direkt weitergereicht. Ich bin unheimlich
dankbar gesund zu sein und so etwas erleben zu dürfen. Es folgt die letzte Kurve.
Die Stelle an der wir alle, wie wir heute in Eisenach, Oberhof und Neuhaus gestartet
sind, aufeinandertreffen. Ein allerletzter Eindruck den ich in seiner ganzen Größe
aufsaugen will: Schmiedefeld kann feiern und dieser Zieleinlauf ist einer der
schönsten. Danke Schmiedefeld! Danke Neuhaus! Danke für diese geniale Party
heute! Ich spüre nichts mehr. Weder Beine, noch den Kopf. Alles ist abgeschaltet
und fokussiert auf die letzten Meter dieses, meines Märchens Rennsteiglauf.
Ich schmecke die Sonne und atme die Stimmung ein. Es ist soweit. Der Weg war
das Ziel und nur deshalb bin ich hier. Ein Blick und Gruß in den blauen Thüringer
Himmel. Dort oben halten meine Großeltern dem Rennsteig sicher immernoch
die Treue, während ich ins schönste Ziel der Welt einlaufen darf...